Geburt der Venus

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Rainer Maria Rilke: Geburt der Venus (1900)

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An diesem Morgen nach der Nacht, die bang
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vergangen war mit Rufen, Unruh, Aufruhr, –
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brach alles Meer noch einmal auf und schrie.
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Und als der Schrei sich langsam wieder schloß
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und von der Himmel blassem Tag und Anfang
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herabfiel in der stummen Fische Abgrund –:
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gebar das Meer.

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Von erster Sonne schimmerte der Haarschaum
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der weiten Wogenscham, an deren Rand
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das Mädchen aufstand, weiß, verwirrt und feucht.
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So wie ein junges grünes Blatt sich rührt,
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sich reckt und Eingerolltes langsam aufschlägt,
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entfaltete ihr Leib sich in die Kühle
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hinein und in den unberührten Frühwind.

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Wie Monde stiegen klar die Kniee auf
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und tauchten in der Schenkel Wolkenränder;
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der Waden schmaler Schatten wich zurück,
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die Füße spannten sich und wurden licht,
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und die Gelenke lebten wie die Kehlen
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von Trinkenden.

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Und in dem Kelch des Beckens lag der Leib
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wie eine junge Frucht in eines Kindes Hand.
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In seines Nabels engem Becher war
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das ganze Dunkel dieses hellen Lebens.
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Darunter hob sich licht die kleine Welle
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und floß beständig über nach den Lenden,
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wo dann und wann ein stilles Rieseln war.
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Durchschienen aber und noch ohne Schatten,
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wie ein Bestand von Birken im April,
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warm, leer und unverborgen, lag die Scham.

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Jetzt stand der Schultern rege Waage schon
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im Gleichgewichte auf dem graden Körper,
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der aus dem Becken wie ein Springbrunn aufstieg
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und zögernd in den langen Armen abfiel
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und rascher in dem vollen Fall des Haars.

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Dann ging sehr langsam das Gesicht vorbei:
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aus dem verkürzten Dunkel seiner Neigung
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in klares, waagrechtes Erhobensein.
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Und hinter ihm verschloß sich steil das Kinn.

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Jetzt, da der Hals gestreckt war wie ein Strahl
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und wie ein Blumenstiel, darin der Saft steigt,
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streckten sich auch die Arme aus wie Hälse
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von Schwänen, wenn sie nach dem Ufer suchen.

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Dann kam in dieses Leibes dunkle Frühe
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wie Morgenwind der erste Atemzug.
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Im zartesten Geäst der Aderbäume
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entstand ein Flüstern, und das Blut begann
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zu rauschen über seinen tiefen Stellen.
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Und dieser Wind wuchs an: nun warf er sich
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mit allem Atem in die neuen Brüste
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und füllte sie und drückte sich in sie, –
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daß sie wie Segel, von der Ferne voll,
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das leichte Mädchen nach dem Strande drängten.

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So landete die Göttin.

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Hinter ihr,
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die rasch dahinschritt durch die jungen Ufer,
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erhoben sich den ganzen Vormittag
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die Blumen und die Halme, warm, verwirrt,
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wie aus Umarmung. Und sie ging und lief.

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Am Mittag aber, in der schwersten Stunde,
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hob sich das Meer noch einmal auf und warf
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einen Delphin an jene selbe Stelle.
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Tot, rot und offen.

(Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024. Ursprünglich aus: Deutsches Textarchiv, CC BY-SA 4.0.)

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Rainer Maria Rilke
(18751926)

* 04.12.1875 in Prag, † 29.12.1926 in Montreux

männlich, geb. Rilke

natürliche Todesursache | Leukämie

österreichischer Lyriker, Erzähler, Übersetzer und Romancier (1875–1926)

(Aus: Wikidata.org)