Die Schuhe

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Christian Morgenstern: Die Schuhe (1892)

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Man sieht sehr häufig unrecht tun,
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doch selten öfter als den Schuhn.

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Man weiß, daß sie nach ewgen Normen
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die Form der Füße treu umformen.

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Die Sohlen scheinen auszuschweifen,
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bis sie am Ballen sich begreifen.

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Ein jeder merkt: es ist ein Paar.
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Nur Mägden wird dies niemals klar.

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Sie setzen Stiefel (wo auch immer)
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einander abgekehrt vors Zimmer.

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Was müssen solche Schuhe leiden!
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Sie sind so fleißig, so bescheiden;

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sie wollen nichts auf dieser Welt,
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als daß man sie zusammen stellt,

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nicht auseinanderstrebend wie
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das unvernünftig blöde Vieh!

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O Ihr Marie, Sophie, Therese –
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der Satan wird euch einst, der böse,

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die Stiefel anziehn, wenn es heißt,
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hinweg zu gehn als seliger Geist!

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Dann werdet ihr voll Wehgeheule
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das Schicksal teilen jener Eule,

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die, als zwei Hasen nach sie flog,
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und plötzlich jeder seitwärts bog,

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der eine links, der andre rechts,

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Wie Puppen, mitten durchgesägte,
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so werdet ihr alsdann, ihr Mägde,

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bei Engeln halb und halb bei Teufeln
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von niegestillten Tränen träufeln,

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der Hölle ein willkommner Spott
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und peinlich selbst dem lieben Gott.

(Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024. Ursprünglich aus: Deutsches Textarchiv, CC BY-SA 4.0.)

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Christian Morgenstern
(1871–1914)

* 06.05.1871 in München, † 31.03.1914 in Meran

männlich, geb. Morgenstern

natürliche Todesursache | Tuberkulose

deutscher Dichter und Schriftsteller

(Aus: Wikidata.org)