Fernflug

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Joachim Ringelnatz: Fernflug (1908)

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Viel Höflichkeit wird uns am Start geboten.
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Die Flugfahrthelfer und Piloten
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Sind wohlerzogen, pflichtbewußt
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Und jung. Auch die, die alt an Jahren,
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Sind zeitvoran, doch welterfahren.

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Da schwellt sich auf dem Festplatz unsre Brust,
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Denn Festplatz darf ich diesen Flugplatz nennen,
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Mit seinen Masten, Flaggen und Antennen.
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Gezähmte Riesenvögel gibt's zu sehn.
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Dort landen sie in Kurven, sanft gelenkt,
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Torkeln ein wenig, zwei, drei Schritte,
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Daß man an Regenschirm und Raben denkt,
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Und stehn.
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»aussteigen bitte!«

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Und wie nun wir in ihrem Bauch bequem
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In weiche Polsterstühle niedersinken,
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Empfinden wir den Fortschritt angenehm,
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Lächeln durchs Fenster Menschen zu, die winken.
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Und fahren plötzlich über grüne Wiesen
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Im Auto hin. Auto? O nein, wir schweben
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Bereits. Ach, daß wir das erleben,
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Erlernen durften und genießen!
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Wir sind vom Erdball fort, schaun auf ein Teppichmuster
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Aus Wäldern, Feldern, Spielzeugkram gewebt,
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Werden der Himmelsnähe jäh bewußter.
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Wie klein sich doch da unten alles lebt.

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Dort geht ein Dienstmädchen von Stadt zu Stadt.
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Wie ich den weiten Schlängweg überseh,
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Den sie zurückzulegen hat,
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Weiß ich, der tun nachher die Beine weh.

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Und wie wir höher streben, werden
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Die Dinge unten winziger, schon sind
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Wagen nur noch Insekten, ist ein Kind
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Nurmehr ein Punkt, und große Rinderherden
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Sehn aus wie Kommas, kreuz und quer gestellt.
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Die Schifflein stehen still im Fluß, sind Würmlein.
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Ein Dorf ist Häufchen Häuschen, um ein Türmlein,
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Und das war unsre sorgenvolle Welt.

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»ei, ei, Herr Nachbar, warum plötzlich
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So blaß – seekrank? Nein? Drückt Ihr Kissen
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Oder vielleicht Ihr ängstliches Gewissen?
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Der Blick zur Tiefe ist doch höchst ergötzlich!«
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Jetzt: Unter uns entrollen sich Balladen.
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Da ziehen dichtgeballte Nebelschwaden,
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Wolkenkolosse hin, bedrückt und stumm
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Und grell von höherer Gewalt besonnt.
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Und Land und Luft verschwimmt am Horizont
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In einer Landschaft aus dem Arktikum.

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Und da wir nun noch höher uns erheben
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Und auf die dunkle, starre Erde schauen,
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Wo sich kein Mensch mehr zeigt, kein Tier, kein Leben,
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Als hätte eine Sündflut – – O mit Grauen
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Stell ich mir vor, wir säßen jetzt zu zwein
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In einer Arche Noah ganz allein.

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»nachbar, ich höre Ihren Pulsschlag pochen.
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Sie schielen ängstlich nach den schlanken Knochen,
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Die unsres Vogels Flügel stützen
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Und, wie Sie meinen, unser Leben schützen.
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Es stirbt sich sowieso und überall,
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Und jedes Ding veranlaßt Unglücksfall.

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Vergessen Sie nicht töricht über diesen
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Gedanken, schönste Freiheit zu genießen.
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Was Tage einst, das schaffen heute Stunden.
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Noch kurze Zeit, dann werden wir's erfinden,
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Den Nebel und den Schnee zu überwinden.
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Das Flugzeug selber ist erfunden
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Und wird so wie die Eisenbahn bestehn.
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Wie die zu jenem sich verhält,
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Gilt's nicht, daß eins von beiden siege.
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Es reise jeder, wie es ihm gefällt.
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Ich – läßt es irgendwie sich drehn –
72
Ich fliege!«

(Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024. Ursprünglich aus: Deutsches Textarchiv, CC BY-SA 4.0.)

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Joachim Ringelnatz
(18831934)

* 07.08.1883 in Wurzen, † 17.11.1934 in Berlin

männlich, geb. Bötticher

natürliche Todesursache | Tuberkulose

deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler

(Aus: Wikidata.org)