Der Glockenguß zu Breslau

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Wilhelm Müller: Der Glockenguß zu Breslau (1821)

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Zu Breslau in der Stadt,
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Ein ehrenwerther Meister,
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Gewandt in Rath und That.

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Er hatte schon gegossen
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Viel Glocken, gelb und weiß,
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Für Kirchen und Kapellen
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Zu Gottes Lob und Preis.

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Und seine Glocken klangen
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So voll, so hell, so rein:
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Er goß auch Lieb' und Glauben
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Mit in die Form hinein.

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Doch aller Glocken Krone,
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Die er gegossen hat,
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Das ist die Sünderglocke
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Zu Breslau in der Stadt.

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Im Magdalenenthurme
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Da hängt das Meisterstück,
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Rief schon manch starres Herze
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Zu seinem Gott zurück.

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Wie hat der gute Meister
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So treu das Werk bedacht!
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Wie hat er seine Hände
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Gerührt bei Tag und Nacht!

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Und als die Stunde kommen,
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Daß Alles fertig war,
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Die Form ist eingemauert,
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Die Speise gut und gar.

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Da spricht der Glockenmeister
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Zu seinem Bübelein:
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Ich lass' ein kurzes Weilchen
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Beim Kessel dich allein.

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Will mich mit einem Trunke
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Noch stärken zu dem Guß;
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Das giebt der zähen Speise
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Erst einen rechten Fluß.

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Doch hüte dich, und rühre
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Den Hahn mir nimmer an:
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Sonst wär' es um dein Leben,
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Fürwitziger, gethan!

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Der Bube steht am Kessel,
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Schaut in die Gluth hinein:
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Das wogt und wallt und wirbelt,
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Und will entfesselt sein.

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Und zischt ihm in die Ohren,
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Und zuckt ihm durch den Sinn,
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Und zieht an allen Fingern
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Ihn nach dem Hahne hin.

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Er fühlt ihn in den Händen,
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Hat schnell ihn umgedreht:
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Da wird ihm angst und bange,
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Er weiß nicht, was er thät.

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Und läuft hinaus zum Meister,
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Die Schuld ihm zu gestehn,
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Will seine Knie' umfassen
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Und ihn um Gnade flehn.

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Doch wie der nur vernommen
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Des Knaben erstes Wort,
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Da reißt die kluge Rechte
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Der jähe Zorn ihm fort.

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Er stößt sein scharfes Messer
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Dem Buben in die Brust,
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Dann stürzt er nach dem Kessel,
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Sein selber kaum bewußt.

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Vielleicht, daß er noch retten,
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Den Strom noch hemmen kann: —
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Doch sieh, der Guß ist fertig,
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Es fehlt kein Tropfen dran.

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Da eilt er abzuräumen,
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Und sieht, und will's nicht sehn,
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Ganz ohne Fleck und Makel
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Die Glocke vor sich stehn.

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Der Knabe liegt am Boden,
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Er schaut sein Werk nicht mehr.
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Ach, Meister, wilder Meister,
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Du stießest gar zu sehr!

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Er stellt sich dem Gerichte,
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Und klagt sich selber an:
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Es thät den Richtern wehe
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Wohl um den wackern Mann.

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Doch kann ihn Keiner retten,
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Und Blut will wieder Blut:
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Er hört sein Todesurthel
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Mit gar gefaßtem Muth.

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Und als der Tag gekommen,
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Daß man ihn führt hinaus,
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Da wird ihm angeboten
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Der letzte Gnadenschmaus.

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Ich dank' euch, spricht der Meister,
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Ihr Herren lieb und werth,
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Doch eine andre Gnade
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Mein Herz von euch begehrt.

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Laßt mich nur einmal hören
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Der neuen Glocke Klang!
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Ich hab' sie ja bereitet:
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Möcht' wissen, ob's gelang.

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Die Bitte ward gewähret,
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Sie schien den Herr'n gering,
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Die Glocke ward geläutet,
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Als er zum Tode ging.

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Der Meister hört sie klingen,
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So voll, so hell, so rein:
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Die Augen gehn ihm über,
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Es muß vor Freude sein.

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Und seine Blicke leuchten,
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Als wären sie verklärt:
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Er hatte in dem Klange
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Wohl mehr als Klang gehört.

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Hat auch geneigt den Nacken
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Zum Streich voll Zuversicht;
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Und was der Tod versprochen,
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Das bricht das Leben nicht.

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Das ist der Glocken Krone,
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Die er gegossen hat,
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Die Magdalenenglocke
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Zu Breslau in der Stadt.

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Die ward zur Sünderglocke
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Seit jenem Tag geweiht:
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Weiß nicht, ob's anders worden
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In dieser neuen Zeit.

(Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024. Ursprünglich aus: Deutsches Textarchiv, CC BY-SA 4.0.)

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Wilhelm Müller
(17941827)

* 07.10.1794 in Dessau, † 30.09.1827 in Dessau

männlich, geb. Müller

deutscher Dichter des 19. Jahrhunderts (1794-1827)

(Aus: Wikidata.org)