Das Fräulein von Rodenschild

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Annette von Droste-Hülshoff: Das Fräulein von Rodenschild (1822)

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Sind denn so schwül die Nächt' im April?
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Oder ist so siedend jungfräulich Blut?
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Sie schließt die Wimper, sie liegt so still,
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Und horcht des Herzens pochender Flut.
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»o will es denn nimmer und nimmer tagen!
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O will denn nicht endlich die Stunde schlagen!
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Ich wache, und selbst der Seiger ruht!

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Doch horch! es summt, eins, zwei und drei, –
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Noch immer fort? – sechs, sieben und acht,
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Elf, zwölf, – o Himmel, war das ein Schrei?
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Doch nein, Gesang steigt über der Wacht,
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Nun wird mir's klar, mit frommem Munde
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Begrüßt das Hausgesinde die Stunde,
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Anbrach die hochheilige Osternacht.«

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Seitab das Fräulein die Kissen stößt,
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Und wie eine Hinde vom Lager setzt,
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Sie hat des Mieders Schleifen gelöst,
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Ins Häubchen drängt sie die Locken jetzt,
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Dann leise das Fenster öffnend, leise,
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Horcht sie der mählich schwellenden Weise,
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Vom wimmernden Schrei der Eule durchsetzt.

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O dunkel die Nacht! und schaurig der Wind!
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Die Fahnen wirbeln am knarrenden Tor, –
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Da tritt aus der Halle das Hausgesind'
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Mit Blendlaternen und einzeln vor.
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Der Pförtner dehnet sich, halb schon träumend,
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Am Dochte zupfet der Jäger säumend,
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Und wie ein Oger gähnet der Mohr.

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Was ist? – wie das auseinanderschnellt!
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In Reihen ordnen die Männer sich,
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Und eine Wacht vor die Dirnen stellt
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Die graue Zofe sich ehrbarlich,
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»ward ich gesehn an des Vorhangs Lücke?
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Doch nein, zum Balkone starren die Blicke,
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Nun langsam wenden die Häupter sich.

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O weh meine Augen! bin ich verrückt?
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Was gleitet entlang das Treppengeländ?
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Hab' ich nicht so aus dem Spiegel geblickt?
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Das sind meine Glieder, – welch ein Geblend'!
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Nun hebt es die Hände, wie Zwirnes Flocken,
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Das ist mein Strich über Stirn und Locken! –
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Weh, bin ich toll, oder nahet mein End'!«

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Das Fräulein erbleicht und wieder erglüht,
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Das Fräulein wendet die Blicke nicht,
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Und leise rührend die Stufen zieht
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Am Steingelände das Nebelgesicht,
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In seiner Rechten trägt es die Lampe,
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Ihr Flämmchen zittert über der Rampe,
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Verdämmernd, blau, wie ein Elfenlicht.

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Nun schwebt es unter dem Sternendom,
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Nachtwandlern gleich in Traumes Geleit,
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Nun durch die Reihen zieht das Phantom,
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Und jeder tritt einen Schritt zur Seit'. –
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Nun lautlos gleitet's über die Schwelle, –
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Nun wieder drinnen erscheint die Helle,
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Hinauf sich windend die Stiegen breit.

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Das Fräulein hört das Gemurmel nicht,
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Sieht nicht die Blicke, stier und verscheucht,
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Fest folgt ihr Auge dem bläulichen Licht,
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Wie dunstig über die Scheiben es streicht.
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– Nun ist's im Saale – nun im Archive –
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Nun steht es still an der Nische Tiefe –
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Nun matter, matter, – ha! es erbleicht!

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»du sollst mir stehen! ich will dich fahn!«
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Und wie ein Aal die beherzte Maid
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Durch Nacht und Krümmen schlüpft ihre Bahn,
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Hier droht ein Stoß, dort häkelt das Kleid,
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Leis tritt sie, leise, o Geistersinne
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Sind scharf! daß nicht das Gesicht entrinne!
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Ja, mutig ist sie, bei meinem Eid!

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Ein dunkler Rahmen, Archives Tor;
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– Ha, Schloß und Riegel! – sie steht gebannt,
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Sacht, sacht das Auge und dann das Ohr
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Drückt zögernd sie an der Spalte Rand,
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Tiefdunkel drinnen – doch einem Rauschen
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Der Pergamente glaubt sie zu lauschen,
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Und einem Streichen entlang der Wand.

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So niederkämpfend des Herzens Schlag,
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Hält sie den Odem, sie lauscht, sie neigt –
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Was dämmert ihr zur Seite gemach?
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Ein Glühwurmleuchten – es schwillt, es steigt,
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Und Arm an Arme, auf Schrittes Weite,
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Lehnt das Gespenst an der Pforte Breite,
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Gleich ihr zur Nachbarspalte gebeugt.

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Sie fährt zurück, – das Gebilde auch –
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Dann tritt sie näher – so die Gestalt –
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Nun stehen die beiden, Auge in Aug,
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Und bohren sich an mit Vampyres Gewalt.
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Das gleiche Häubchen decket die Locken,
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Das gleiche Linnen, wie Schnees Flocken,
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Gleich ordnungslos um die Glieder wallt.

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Langsam das Fräulein die Rechte streckt,
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Und langsam, wie aus der Spiegelwand,
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Sich Linie um Linie entgegenreckt
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Mit gleichem Rubine die gleiche Hand;
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Nun rührt sich's – die Lebendige spüret
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Als ob ein Luftzug schneidend sie rühret,
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Der Schemen dämmert, – zerrinnt – entschwand.

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Und wo im Saale der Reihen fliegt,
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Da siehst ein Mädchen du, schön und wild,
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– Vor Jahren hat's eine Weile gesiecht –
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Das stets in den Handschuh die Rechte hüllt.
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Man sagt, kalt sei sie wie Eises Flimmer,
104
Doch lustig die Maid, sie hieß ja immer:
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»das tolle Fräulein von Rodenschild.«

(Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024. Ursprünglich aus: Deutsches Textarchiv, CC BY-SA 4.0.)

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Annette von Droste-Hülshoff
(17971848)

* 10.01.1797 in Burg Hülshoff, † 24.05.1848 in Burg Meersburg

weiblich, geb. von Droste-Hülshoff

natürliche Todesursache | Lungenentzündung

deutsche Schriftstellerin und Komponistin

(Aus: Wikidata.org)